Thursday, April 10, 2014

Letzte Gedanken


Schnell! Du hast nur noch ein paar wenige Tage, um den Leuten all das zu erzählen, was Du erzählen willst.  Versuchst Du, wie ein Militärgeneral alles in Ordnung zu bringen und brüllst die letzten Wünsche im Befehlston?  Oder versuchst Du eher, wie ein Politiker alles auszudiskutieren und gut klingende Redewendungen zu finden, damit alle Deine letzten Worte deutlich hören, verstehen und akzeptieren können?

Mal im Ernst: in Wirklichkeit ist es pure Illusion zu glauben, unsere letzten Worte würden unser Umfeld in irgendeiner Weise verändern können.  Wir werden viel stärker von lebenslangen Erfahrungen geprägt als von ein paar Worten in letzter Minute.  Entweder haben wir eine bestimmte Botschaft bereits gehört und akzeptiert, oder vor langer Zeit bereits entschieden, diese nicht wahrzunehmen. Oder nicht wahrnehmen zu wollen.

Deswegen kann ich Ihnen, liebe Mitglieder und Freunde unserer Gemeinde, in den letzten Minuten lediglich die Worte schenken, die ich in meinen zwei Jahren hier als besonders wichtig empfunden und deshalb so oft in meinen verschiedenen Predigten wiederholt habe:

Hauptziel und Hauptzweck des Judentums ist nicht, „religiös“ zu werden und irgendein Dogma zu akzeptieren.  Jedoch aber Bewusstsein zu entwickeln.  Wie behandeln wir andere Leute?  Wie sind unsere Beziehungen zueinander?  Von welchen Ideen oder sogar Substanzen sind wir, im übertragenen Sinn, versklavt? Was tun wir, um davon wieder loszukommen, wieder frei zu sein?  Welchen Menschen haben wir nie vergeben und welche Menschen müssen wir besuchen, um sie um Vergebung zu bitten?  Kann ich in den Spiegel schauen und feststellen, dass ich nicht perfekt bin? Dass ich nicht immer der Held meiner Lebensgeschichte bin, aber genau derjenige, der an der einen oder anderen Stelle das Falsche tut?

Jeder jüdische Feiertag hilft uns, solch eine Frage zu stellen.  Jeder jüdische Feiertag versucht, uns zu fordern,  spirituell und praktisch reifer zu werden, uns um unsere Beziehungen zu kümmern und diese zu heilen. Die Frage ist nur, warum tun wir diese Sachen nicht?  Wenn diese Elemente doch so wichtig sind, warum nehmen wir unsere Tradition nicht ernst?  Warum genießen Selbstbewusstsein, Entkommen aus der Sklaverei und die Heilung unserer Beziehungen keine Priorität?

Meine letzte Worte sind einfach: Judentum ist relevant.  Betrachten wir unsere Geschichte, so dürften wir eigentlich nicht mehr existieren. Aber wir existieren trotzdem immer noch, weil Judentum, Thora, Schabbat und unsere Feiertage Relevanz besitzen. Unsere Traditionen haben uns stets dabei geholfen, als Volk und Religion zu überleben.  Unsere Entscheidungen jetzt und hier sind die Entscheidungen, die unsere Kinder und Kindeskinder sowie alle folgenden Generationen mittragen werden.  Sind und bleiben wir immer noch Juden, oder existiert unser Judentum bloß noch als ein kulturelles Relikt, das wir langsam hier in Deutschland vergessen werden?  Um nicht zu vergessen woher wir kommen und wer wir sind als jüdisches Volk, müssen wie genau jetzt damit beginnen, unsere Tradition als etwas Wichtiges anzusehen und zu bewahren. Wir müssen aktive Teilnehmer am Lebenslauf unseres Judentums werden anstatt Zuschauer am Rand der Strecke unserer Tradition zu bleiben.

B’Schalom,


Ihr Rabbiner Paul Moses Strasko