Schnell! Du hast nur noch ein paar wenige Tage, um den Leuten all das zu
erzählen, was Du erzählen willst. Versuchst Du, wie ein Militärgeneral
alles in Ordnung zu bringen und brüllst die letzten Wünsche im Befehlston? Oder
versuchst Du eher, wie ein Politiker alles auszudiskutieren und gut klingende
Redewendungen zu finden, damit alle Deine letzten Worte deutlich hören,
verstehen und akzeptieren können?
Mal im Ernst: in Wirklichkeit ist es pure Illusion zu glauben, unsere
letzten Worte würden unser Umfeld in irgendeiner Weise verändern können. Wir
werden viel stärker von lebenslangen Erfahrungen geprägt als von ein paar Worten
in letzter Minute. Entweder haben wir eine bestimmte Botschaft bereits
gehört und akzeptiert, oder vor langer Zeit bereits entschieden, diese nicht
wahrzunehmen. Oder nicht wahrnehmen zu wollen.
Deswegen kann ich Ihnen, liebe Mitglieder und Freunde unserer Gemeinde, in
den letzten Minuten lediglich die Worte schenken, die ich in meinen zwei Jahren
hier als besonders wichtig empfunden und deshalb so oft in meinen verschiedenen
Predigten wiederholt habe:
Hauptziel und Hauptzweck des Judentums ist nicht, „religiös“ zu werden und
irgendein Dogma zu akzeptieren. Jedoch aber Bewusstsein zu
entwickeln. Wie behandeln wir andere Leute? Wie sind
unsere Beziehungen zueinander? Von welchen Ideen oder sogar Substanzen
sind wir, im übertragenen Sinn, versklavt? Was tun wir, um davon wieder
loszukommen, wieder frei zu sein? Welchen Menschen haben wir nie
vergeben und welche Menschen müssen wir besuchen, um sie um Vergebung zu
bitten? Kann ich in den Spiegel schauen und feststellen, dass ich
nicht perfekt bin? Dass ich nicht immer der Held meiner Lebensgeschichte bin,
aber genau derjenige, der an der einen oder anderen Stelle das Falsche tut?
Jeder jüdische Feiertag hilft uns, solch eine Frage zu
stellen. Jeder jüdische Feiertag versucht, uns zu fordern, spirituell
und praktisch reifer zu werden, uns um unsere Beziehungen zu kümmern und diese
zu heilen. Die Frage ist nur, warum tun wir diese Sachen nicht? Wenn
diese Elemente doch so wichtig sind, warum nehmen wir unsere Tradition nicht
ernst? Warum genießen Selbstbewusstsein, Entkommen aus der Sklaverei
und die Heilung unserer Beziehungen keine Priorität?
Meine letzte Worte sind einfach: Judentum ist relevant. Betrachten
wir unsere Geschichte, so dürften wir eigentlich nicht mehr existieren. Aber wir
existieren trotzdem immer noch, weil Judentum, Thora, Schabbat und unsere
Feiertage Relevanz besitzen. Unsere Traditionen haben uns stets dabei geholfen,
als Volk und Religion zu überleben. Unsere Entscheidungen jetzt und
hier sind die Entscheidungen, die unsere Kinder und Kindeskinder sowie alle
folgenden Generationen mittragen werden. Sind und bleiben wir immer
noch Juden, oder existiert unser Judentum bloß noch als ein kulturelles Relikt,
das wir langsam hier in Deutschland vergessen werden? Um nicht zu
vergessen woher wir kommen und wer wir sind als jüdisches Volk, müssen wie
genau jetzt damit beginnen, unsere Tradition als etwas Wichtiges anzusehen und zu
bewahren. Wir müssen aktive Teilnehmer am Lebenslauf unseres Judentums werden
anstatt Zuschauer am Rand der Strecke unserer Tradition zu bleiben.
B’Schalom,
Ihr Rabbiner Paul Moses Strasko