Sunday, August 8, 2010

Besondere Drasha -- Israelsonntag interreligiöse Predigt

28 Av 5770/8 August 2010 Berlin / Spandau

Predigttext: Jesaja 51:16-22

16 Ich habe dir meine Worte in den Mund gelegt, / im Schatten meiner Hand habe ich dich verborgen, als ich den Himmel ausspannte und die Fundamente der Erde legte / und zu Zion sagte: Du bist mein Volk.

17 Raff dich auf, raff dich auf, / steh auf, Jerusalem! Du hast aus dem Becher des Zorns getrunken, / den der Herr in der Hand hielt. Du hast aus dem betäubenden Becher getrunken / und ihn geleert.

18 Da war von all den Söhnen, die sie gebar, / keiner, der sie geführt hat. Da war von all den Söhnen, die sie aufzog, / keiner, der sie bei der Hand nahm.

19 Beides hat dich getroffen / - doch wer klagt schon um dich? -: Verheerung und Zerstörung, Hunger und Schwert. / Doch wer tröstet dich schon?

20 An allen Straßenecken lagen deine Söhne hilflos da, / wie Wildschafe im Netz, überwältigt vom Zorn des Herrn, / vom Schelten deines Gottes.

21 Darum hör doch her, du Ärmste, / die du betrunken bist, aber nicht vom Wein:

22 So spricht der Herr, dein Gott und Gebieter, / der für sein Volk kämpft: Schon nehme ich dir den betäubenden Becher aus der Hand, / den Kelch meines Zorns; / du sollst daraus nicht mehr trinken.

Ich möchte meine heutige Predigt mit einigen Anekdoten und Eindrücken über Israel beginnen.

Erstens:

Es ist Sommer 2006 und es herrscht in Israel Krieg zwischen der Hisbollah und Israel. Es ist auch mein erster Besuch in Israel, wo ich während des Krieges in einem Intensivkurs Hebräisch lerne. Am dritten Tag meines Aufenthaltes besuche ich zum ersten Mal die Altstadt Jerusalems – und natürlich die Klagemauer.

Es ist wichtig zu betonen, dass ich mich als rationaler Mensch betrachte. Ich habe zwar verschiedene Geschichten gehört von Leuten, die zum ersten Mal die Mauer berühren und sofort anfangen zu weinen. Das ist doch lächerlich. Ist das nicht fast eine Art von Götzenverehrung? Und trotzdem —ich bin rational. Israel ist ein Ort, die Altstadt ist ein alter Ort und die Klagemauer ist ein bemerkenswerter Ort. Natürlich bin ich neugierig –

aber ich warte geduldig bis meine Gruppe die Klagemauer erreicht. Ganz ruhig trete ich in den Männerbereich ein. Ich hole mein Gebetsbuch heraus – strecke meine Hand aus – berühre leicht die Mauer – und fange sofort an zu weinen.

Ein Alter Mann – schwarz-weiss bekleidet – kommt zu mir und sagt auf Englisch—„Also – dein erster Besuch, oder? Lass uns zusammen einen Segen sprechen.“

Zweitens:

12 Leute sitzen um einen Tisch herum. Was die Leute wissen, ist dass sie an einer Gesprächsgruppe teilnehmen. Was sie nicht wissen, ist dass die Gesprächsgruppe vom israelischen Informationsministerium organisiert wurde. In der Gesprächsgruppe müssen die Teilnehmer einfach ein Haus beschreiben. Der Trick ist jedoch, dass das Haus ein ganzes Land symbolisieren muss. Das heißt, wenn der Moderator zum Beispiel „Frankreich“ sagt, müssen die Teilnehmer das Haus beschreiben als ob es Frankreich wäre. Was trinken sie, was essen sie, was sagen sie, welche Sachen tragen sie, wie sieht das Haus aus. Mir gefiel die Beschreibung von Italien immer am besten. „Sie trinken Wein. Sie reden laut und mit ihren Händen. Sie singen.“ Der Moderator fragt, „Füllen Sie sich willkommen?“ „Ja, gewiss! Selbstverständlich!.“ Irgendwann—nicht am Anfang und nicht am Ende—sagt der Moderator, „Israel.“

Totale Stille . . . dann . . .

„Oooh, das Haus ist ein Bunker.“ „Ja, es gibt keine Frauen.“ „Die Männer sind alle Orthodoxe.“ „Ja, oder Soldaten!“ „Und sie tragen Maschinengewehre.“ „Es gibt kein Grün.“ „Ja, aber viel Stacheldraht.“

10 Mal wurden 10 verschiedenen Gruppen die gleichen Fragen gestellt. 10 Mal kamen die gleichen Antworten.

Drittens:

Es ist mein vierter Monat in Jerusalem als Rabbinerstudent. Ich habe mich schon entschieden in Deutschland zu leben, zu studieren und dort auch als Rabbiner zu dienen. Obwohl ich bis dahin nie in Deutschland gelebt habe, habe ich schon in irgendeiner spirituellen Realität Deutschland als Heimat akzeptiert.

An diesem bestimmten Wochenende wollte ich an der Klagemauer beten. Ich musste durch die Strassen der Altstadt gehen, um die Klagemauer zu erreichen. 200 Meter hinter dem Jaffator innerhalb der Stadtmauern trat ein palästinensischer Ladenbesitzer an mich heran. Er sagte: „Ata m’Germania?“ Kommen Sie aus Deutschland? 300 Meter weiter-- auf der Treppe, die zur Klagemauer führt-- trat noch ein Mann – ein Bettler, der jüdisch-orthodox bekleidet war— an mich heran. „Ata m’Germania?“ Was? Ist das ein Witz? Ein Komplott? Ich hatte nichts vorher gesagt, ich war allein und es gab da eine Menge von Touristen von überall her. Man hätte ganz einfach Amerika schätzen können —Großbritannien— oder irgendwas anderes . . . aber . . . warum haben sie das gesagt? Besitzen die da im Heiligen Land etwas . . . Außergewöhnliches?

Viertens:

Die New York Times hat vor einigen Jahren eine interessante Frage gestellt. Ziel der Untersuchung war es, zu dokumentieren wie viele Wörter in der Zeitung innerhalb eines Jahres einem bestimmten Land gewidmet wurden. Dazu durchsuchten sie die Seiten der NY Times, die sich mit Auslandsthemen beschäftigen. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden dann auf eine Art Landkarte übertragen. Die Idee war es aufzuzeigen, wie groß ein Land wäre in Beziehung zu seiner Erwähnung in der Zeitung. Als die Landkarte fertig gestellt war, ergab sich, dass Israel die Größe von der ehemaligen Sowjetunion hat.

Ich bin heute nicht hier als Israelverteidiger oder Mitglied des israelischen Parlaments—sondern als Rabbinerstudent. Das heißt, obwohl es schwierig ist nicht über den politischen Zustand zu reden—meine Aufgabe heute ist eine andere.

Lassen Sie es gesagt sein – ich werde natürlich ein bisschen über den politischen Zustand reden – zumindest damit Sie meine persönlichen Ansichten Israel gegenüber verstehen können. Dazu muss ich dann fragen—warum Israel? Ich meine – warum so ein Fokus? Es ist wichtig anzuerkennen, dass wenn Sie schon eine festgelegte Perspektive Israel gegenüber haben, unabhängig von dem was ich einbringe, werde ich keine Meinungsänderung bewirken. Aber warum gibt es so einen Fokus – einen „ehemalige Sowjetunion“-großen Fokus? Es scheint als ob etwas – vielleicht – unverhältnismäßig ist.

Lassen mich einige Beispiele anführen:

Ganz oft, wenn ich Kritik gegen Israel höre, höre ich häufig Kritik entweder gegen die Idee eines Jüdischen Staates, oder gegen die israelischen Sperranlagen—die so genannte Sicherheitsmauer oder der Sicherheitszaun. Ich möchte es ganz klar sagen — die Sperranlagen stellen eindeutig eine große ethische Herausforderung dar. Wenn man versucht fair zu sein – („Was recht ist, dem sollst Du nachjagen“) muss man über die Situation der – zum Beispiel – Olivenbauern, die von ihren Ländereien getrennt wurden, reden. Diese Gewissensfragen sind wichtig, aber was ich heute einbringen möchte, ist nicht, dass wir die Sicherheitsmauer diskutieren sondern: Warum diskutieren wir nur über die in Israel liegende Mauer? Es gibt weltweit 30 ähnliche Sicherheitsmauern, Zäune oder Absperrungen. Die Existenz von den anderen ist keine Entschuldigung für die Eine, aber weltweit ist die Diskussion über die Eine unter Ausschluss der 30 anderen . . . unangemessen. Ähnlich lohnt es sich die potentiellen Widersprüche zwischen den Konzepten „ein Jüdischer Staat“ und „ein demokratischer Staat“ zu erwähnen. Aber auch im Sinn von „Recht“ und „nachjagen“ muss ich die Frage stellen: Warum reden wir fast ausschließlich über den einen Staat und nicht über die 25 ausschließlich oder teilweise auf einem Grundgesetz basierenden islamischen Staaten oder die 15 christlichen.

Und deshalb noch einmal. . . warum Israel?

Es ist jetzt vielleicht eine gute Gelegenheit über die Bedeutung des Wortes „Israel“ zu reden. Das Volk Israel und das Land Israel haben zahlreiche Ebenen der Bedeutung des Wortes „Israel“ geerbt, und das ist wahrscheinlich eine Antwort zur Frage „Warum Israel“.

Im ersten Buch Mose, Kapital 32, lesen wir über Jakobs Rückkehr in seine Heimat. Natürlich hat er ein bisschen Angst, da er doch seinen Brüder betrogen hat. In der Nacht vor dem Treffen mit seinem Bruder macht er . . . lassen Sie uns sagen . . . eine interessante Erfahrung.

Von Vers 25:

25 Als nur noch er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg.

26 Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang.

27 Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest.

28 Jener fragte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er.

29 Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen.

Das heißt—die klare Bedeutung von „Israel“ ist: „der, der mit G’tt ringt.“

Was für ein Erbe!

Jetzt können wir vielleicht den heutigen Prophetentext wieder betrachten und anders verstehen.

16 Ich habe dir meine Worte in den Mund gelegt, / im Schatten meiner Hand habe ich dich verborgen, als ich den Himmel ausspannte und die Fundamente der Erde legte / und zu Zion sagte: Du bist mein Volk.

17 Raff dich auf, raff dich auf, / steh auf, Jerusalem!

. . . und dann was wir früher im Kapital 1 gelesen haben:

11 Was soll ich mit euren vielen Schlachtopfern . . . .

16 Wascht euch, reinigt euch! / Lasst ab von eurem üblen Treiben! / Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun!

17 Lernt, Gutes zu tun! / Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! / Verschafft den Waisen Recht, / tretet ein für die Witwen!

. . . und endlich die Worte im 5. Buch Mose, vom Anfang des Gottesdienstes:

„Was recht ist, dem sollst Du nachjagen, damit du leben und das Land einnehmen kannst,

das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“

Liebe Gemeinde: Die erste Sache, die man bezüglich Israel lernen muss, ist dass es kompliziert ist. Volk Israel . . . Land Israel . . . die Geschichte Israels . . . die Religion der Israeliten und ihre Beziehung mit G’tt . . . und was wir als Kinder Israels geerbt haben – die Kinder die mit G’tt ringen—sind Teil der Diskussion.

Kein Wunder, dass es kompliziert ist.

Meiner Meinung nach müssen wir 20 Schritte zurück treten, damit wir überhaupt einen kleinen Bruchteil von der Komplexität verstehen können. Unsere Herausforderungen sind von den Jahrhunderten geprägt, aber die Tatsache ist . . . wenn wir „auserwähltes Volk“ hören, zum Beispiel, hören wir nicht den Sinn der Wörter von Jesaja, sondern 2000 Jahre von Missverständnissen von seiten der Nichtjuden als auch der Juden selbst.

„Du bist mein Volk“ schrieb Jesaja. Man sollte nur mit viel Vorsicht den Begriff „auserwähltes Volk“ im Internet nachschlagen. Man wird Spott und die unzähligen/zahlreichen Seiten von Antisemitismus finden. Aber im Jesajabuch selbst ist der Begriff kein Lob. Er steht auf keinen Fall dafür, dass Israel besser ist als andere Völker. Stattdessen schrieb der Prophet, „Raff dich auf, wach auf, steh auf.“ Zu welchem Zweck?

„Lernt, Gutes zu tun! / Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! / Verschafft den Waisen Recht, / tretet ein für die Witwen!“

Israel – Ideal und Realität. . .

Jesaja hat das Ideal von Israel verkörpert. Das Ideal ist, dass das Volk Israel ständig eine rein ethische Beziehung mit seiner Umgebung, seinen Nachbarn und mit seinem Selbst zu verwirklichen versucht.

. . . in der Tat eine Herausforderung.

Lassen Sie mich nun schlussendlich eine alternative Perspektive der Geschichte Israels anbieten.

Es gab ein Volk, das im Lauf der Zeit das Volk Israel geworden ist. Sie machten fast genau das, was die Anderen in ihrer Umgebung gemacht haben. Tieropfer . . . Tempeldienst . . . ein Königreich bauen . . . Geschichten erzählen . . . und, wie alle anderen Leute, haben sie versucht ihre Beziehung mit dem Universum zu verstehen. Irgendwann, durch ihre kollektiven Erinnerungen, ihres Entkommens aus der Sklaverei, haben sie in Bezug auf das Thema Offenbarung etwas Neues eingebracht. Es gibt einen G’tt. Dadurch gibt es Verantwortlichkeit. Gerechtigkeit sollst du nachjagen. Ihr seid das Volk Israel(s). Israel bedeutet, „der, der mit G’tt ringt.“

Dann haben sie etwas bisher Einmaliges gemacht. Sie haben gewählt, die Einzelheiten ihres Ringens aufzuschreiben und zu beschreiben . . . ohne alles schön zu reden. Das heißt, wenn sie versagt haben, die Ideale ihres G’ttes zu erreichen, haben sie Alles klar erzählt—inklusive die Ermahnungen der Propheten.

Im Lauf der Zeit haben viele Leute, die diese Worte gelesen haben, die intime Natur – die Natur vom Ringen – der Israel-G’tt Beziehung vergessen. Stattdessen haben sie gesagt, die Natur Israels ist es zu scheitern. Sie haben den Aspekt von der ewigen Hoffnung G’ttes nicht geerbt. So tief ist diese Auffassung im Kollektivenbewusstsein eingeprägt, dass wir den „Staat Israel“ und dadurch ganz oft auch das „Volk Israel“ unangemessen vorverurteilen.

Dies ist ein grundlegender Aspekt der Realität Israels.

Aber der Traum existiert noch. So ein Gottesdienst wie dieser — ein Treffen der Kinder Abrahams – ist ein Teil des Traums, der eine neue Realität bewirken kann. Interreligiöse Arbeit . . . miteinander reden. . . miteinander lernen. . . dies sind alles Symbole der Transformation vom Traum zur Realität.

Jesaja hat Zion, d.h. Israel, als Heimat G’ttes beschrieben, weil wenn wir dort Frieden bewirken können, kann die Anwesenheit G’ttes wieder in Zion existieren. Zion ist die Herausforderung und das Ringen mit G’tt – das heißt „Israel“ – ist unsere kollektive Ermahnung, zusammen zu arbeiten, den Traum zu realisieren.

Warum Israel?

Nur durch so eine große Herausforderung können wir uns weiter entwickeln. . . nicht nur die Herausforderung von Schlagzeilen und politischen Ereignissen—sondern—die Herausforderung unsere Überzeugungen in Frage zu stellen—unsere Herausforderung mit G’tt zu ringen.

Und ja, ich habe es fast vergessen. Wie konnten die zwei Männer von meiner früheren Geschichte vermuten, dass ich irgendwie aus „Germania“ kam? Ein Professor an dem Hebrew Union College in Jerusalem hat versucht dies zu erklären – die Leute in der Altstadt, die dringend Geld von Touristen brauchen, wären besonders begabt, die Besonderheiten von Touristen zu erkennen und zu interpretieren. Bei mir war das so, dass sie meine Brille—sehr Deutsch und ganz unamerikanisch—sofort als deutsch betrachtet haben.

Ich weiß es nicht. Das ist zu . . . rational. Meine Erklärung, glaube ich, ist besser. Innerhalb einer Diskussion Israel betreffend, musste ich immer, wie Jesaja, über den Traum sprechen. Es gibt etwas Besonderes in Bezug auf Israel. Es ist nicht immer rational. Im Endeffekt sind der Traum und die Realität gleich. Wir träumen, dass wir die Herausforderung von Israel—Volk und Land—überleben und davon lernen können. Wir träumen, dass durch den Prozess, mit G’tt zu ringen—dass heißt mit unseren Vorurteilen und Ängsten und menschlichen Schwächen zu ringen—wir – endlich – Frieden nach Zion bringen können. Wir träumen, dass Israel ein mystischer Ort ist, in dem Männer, ohne ein jegliches Wort unsere Träume lesen können. Wir träumen, dass wir den Erwartungen der Propheten – den Erwartungen G’ttes—gerecht werden können—und dadurch wird Israel der Traum, Israel die Realität.

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