Zu
den Hohen Feiertagen vor einigen Jahren konnte ich in Jerusalem eine wunderbare
Tradition beobachten: am Ende der Jom Kippur-Abendg’ttesdienste laufen viele
Leute durch die Straßen. Die Straßen sind leer von fahrenden Autos, denn in
Jerusalem wird am Jom Kippur ein großer Teil der Straßen für den Verkehr
gesperrt. Man geht durch die Straßen und hat die Möglichkeit, andere Menschen
zu treffen, anzusprechen und zu sagen: „Wenn ich Sie verletzt oder eine Sünde
Ihnen gegenüber begangen haben sollte, so bitte ich Sie dafür um Verzeihung.“.
Ich
muss zugeben, meine erste Reaktion darauf war nicht wirklich positiv. Ich
dachte, das sei doch willkürlich und damit bedeutungslos. Die Idee von
Teschuwa, der „Umkehr“, ist, dass der Ewige uns nicht verzeihen kann, wenn wir
Menschen gegenüber gesündigt haben. Unabhängig von dem, was man „glaubt“, finden
wir hier ein religiöses Element in unserer Tradition, das absolut praktisch ist
und uns, psychologisch betrachtet, gesund hält. Wenn wir diese Tradition ernst
nehmen, sprechen wir jedes Jahr mit unseren Verwandten, Freunden, Nachbarn und
Mitarbeitern, um unsere Beziehungen miteinander zu reparieren und zu verstärken.
Wir sind doch „nur“ Menschen. Wir irren uns, machen Fehler. Das ist das Leben. Deshalb
müssen wir ständig auf die Gesundheit unserer zwischenmenschlichen Beziehungen
achten. Und genau dafür gibt es unsere Pflicht der Teschuwa, der Reue und
Umkehr.
Also
welche Sinnhaftigkeit steckt in dieser ziemlich willkürlichen Tradition in
Jerusalem?
In
meiner langjährigen Seelsorgepraxis habe ich oft festgestellt, dass selbst
dann, wenn uns etwas in der Umsetzung einfach erscheint, wir in der Praxis
nicht immer fähig dazu sind. Was so leicht scheint, ist im Endeffekt
unglaublich schwierig. „Entschuldigung“ zu sagen bedeutet auch „ich habe einen
Fehler begangen.“ Unsere Selbstverteidigungsmechanismen sind so stark ausgeprägt,
dass wir im übertragenen Sinn erst eine innere Mauer durchbrechen müssen, bevor
wir „Sorry“ sagen können. Aber ohne ein „Tut mir leid“ gibt es keine Teschuwa und
laut unserer Tradition somit auch keine Vergebung unserer Sünden. Eine mögliche
Lösung dafür ist die Übung.
Wenn
wir durch die Straßen gehen und mit Bekannten sowie Fremden als Teil eines
Rituals sprechen, üben wir Teschuwa. Wenn es fast unmöglich ist, „Entschuldigung“
zu unseren Nächsten zu sagen, dann müssen wir damit beginnen, die Fähigkeit hierfür
zu entwickeln. Dieses Ritual auf der Straße ist nicht vergebens. Durch dieses
und durch das Wiederholen der rituellen Worte „Ich bitte um Verzeihung“ haben
wir eine größere Chance uns selbst zu befähigen, dies auch unseren Nächsten
anbieten zu können. Auf dem Spiel steht immerhin die Gesundheit unserer
Beziehungen.
Ich
empfehle, dass wir als Gemeinde das gleiche ausprobieren. Lasst uns alle nach
den anstehenden Feiertags-G’ttesdiensten versuchen zu „üben“. Lasst uns
zueinander sagen: „Wenn ich Sie verletzt habe, oder irgendeine Sünde Ihnen
gegenüber begangen habe, bitte ich um Verzeihung.“ Zum einen erlernen wir somit
eine wichtige Fähigkeit. Zum anderen hat jeder von uns andere Menschen verletzt,
auch untereinander in unserer Gemeinde. Vielleicht fangen wir auf diesem Weg
an, ein wenig Heilung und Vorgeschmack der kommenden Welt in unsere Gemeinde zu
bringen.
Schanah
Towa!
Ihr
Gemeinderabbiner Paul Moses Strasko
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