Friday, September 13, 2013

TESCHUWA - aktive Reue & Umkehr


 Zu den Hohen Feiertagen vor einigen Jahren konnte ich in Jerusalem eine wunderbare Tradition beobachten: am Ende der Jom Kippur-Abendg’ttesdienste laufen viele Leute durch die Straßen. Die Straßen sind leer von fahrenden Autos, denn in Jerusalem wird am Jom Kippur ein großer Teil der Straßen für den Verkehr gesperrt. Man geht durch die Straßen und hat die Möglichkeit, andere Menschen zu treffen, anzusprechen und zu sagen: „Wenn ich Sie verletzt oder eine Sünde Ihnen gegenüber begangen haben sollte, so bitte ich Sie dafür um Verzeihung.“.

Ich muss zugeben, meine erste Reaktion darauf war nicht wirklich positiv. Ich dachte, das sei doch willkürlich und damit bedeutungslos. Die Idee von Teschuwa, der „Umkehr“, ist, dass der Ewige uns nicht verzeihen kann, wenn wir Menschen gegenüber gesündigt haben. Unabhängig von dem, was man „glaubt“, finden wir hier ein religiöses Element in unserer Tradition, das absolut praktisch ist und uns, psychologisch betrachtet, gesund hält. Wenn wir diese Tradition ernst nehmen, sprechen wir jedes Jahr mit unseren Verwandten, Freunden, Nachbarn und Mitarbeitern, um unsere Beziehungen miteinander zu reparieren und zu verstärken. Wir sind doch „nur“ Menschen. Wir irren uns, machen Fehler. Das ist das Leben. Deshalb müssen wir ständig auf die Gesundheit unserer zwischenmenschlichen Beziehungen achten. Und genau dafür gibt es unsere Pflicht der Teschuwa, der Reue und Umkehr.

Also welche Sinnhaftigkeit steckt in dieser ziemlich willkürlichen Tradition in Jerusalem?

In meiner langjährigen Seelsorgepraxis habe ich oft festgestellt, dass selbst dann, wenn uns etwas in der Umsetzung einfach erscheint, wir in der Praxis nicht immer fähig dazu sind. Was so leicht scheint, ist im Endeffekt unglaublich schwierig. „Entschuldigung“ zu sagen bedeutet auch „ich habe einen Fehler begangen.“ Unsere Selbstverteidigungsmechanismen sind so stark ausgeprägt, dass wir im übertragenen Sinn erst eine innere Mauer durchbrechen müssen, bevor wir „Sorry“ sagen können. Aber ohne ein „Tut mir leid“ gibt es keine Teschuwa und laut unserer Tradition somit auch keine Vergebung unserer Sünden. Eine mögliche Lösung dafür ist die Übung.

Wenn wir durch die Straßen gehen und mit Bekannten sowie Fremden als Teil eines Rituals sprechen, üben wir Teschuwa. Wenn es fast unmöglich ist, „Entschuldigung“ zu unseren Nächsten zu sagen, dann müssen wir damit beginnen, die Fähigkeit hierfür zu entwickeln. Dieses Ritual auf der Straße ist nicht vergebens. Durch dieses und durch das Wiederholen der rituellen Worte „Ich bitte um Verzeihung“ haben wir eine größere Chance uns selbst zu befähigen, dies auch unseren Nächsten anbieten zu können. Auf dem Spiel steht immerhin die Gesundheit unserer Beziehungen.

Ich empfehle, dass wir als Gemeinde das gleiche ausprobieren. Lasst uns alle nach den anstehenden Feiertags-G’ttesdiensten versuchen zu „üben“. Lasst uns zueinander sagen: „Wenn ich Sie verletzt habe, oder irgendeine Sünde Ihnen gegenüber begangen habe, bitte ich um Verzeihung.“ Zum einen erlernen wir somit eine wichtige Fähigkeit. Zum anderen hat jeder von uns andere Menschen verletzt, auch untereinander in unserer Gemeinde. Vielleicht fangen wir auf diesem Weg an, ein wenig Heilung und Vorgeschmack der kommenden Welt in unsere Gemeinde zu bringen.

Schanah Towa!


Ihr Gemeinderabbiner Paul Moses Strasko

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